Leseprobe
Experten-Test: der neue Mercedes eSprinter
Erfrischender Dialog bei etwas kühlen Temperaturen im Cockpit des Mercedes eSprinter. „Hey Mercedes!” „Was kann ich für Dich tun? „Mir ist kalt.“ „Wenn ich Dich höre, wird mir immer ganz warm ums Herz.“ Welch eine Harmonie an Bord. Das serienmäßige Multimediasystem MBUX mit seiner Sprachbedienung ist immer für einen kessen Spruch gut, wie sich noch zeigen wird.
Ran an die Steckdose im Ladepark und das Rad aus dem Frachtraum geholt. Während beim eSprinter der Strom fließt, rinnt bei seinem Fahrer der Schweiß – Leibesertüchtigung bei gut 30 Grad Celsius. Nach wenig mehr als einer halben Stunde ein prüfender Blick auf die Lade-App. Überraschung: Der Strompegel des eSprinter mit 81-kWh-Akku ist rasch von 43 auf 99 Prozent geklettert – der Mercedes hat im Unterschied zu Wettbewerbern auch im oberen Bereich einen tüchtigen Zug. Das relativiert die nominell eher mittelprächtige maximale Ladeleistung von 115 kW. Es sind nicht alle gleich an der Ladesäule.
Starten per Knopfdruck, die Nadeln der analogen Instrumente schlagen mitsamt einer roten Markierung effektvoll kurz bis zum Vollausschlag aus. DNR-Lenkstockhebel betätigen, elektrische Feststellbremse lösen. Mit 150 kW Motorleistung und 400 Nm Drehmoment setzt sich der Mercedes eSprinter dynamisch in Bewegung, aber ohne übertriebene Hast. Beim Start entscheidet sich der eSprinter für das Fahrprogramm „C“ wie Comfort mit maximaler Leistungsfähigkeit.
Wer ihn drosseln möchte, wählt E wie Economy. Dann steht laut Powermeter zwei Drittel der Muskelkraft zur Verfügung, allemal genug für den Alltag. Und dann wäre da als dritte Variante „MR“, das bedeutet maximale Reichweite. Erzielt mit halber Kraft voraus und stark reduzierter Klimatisierung. Dann setzt sich der Transporter behäbig in Bewegung. Für alle Stufen gilt: Voller Tritt aufs Fahrpedal heißt ebenso volle Leistung. Und immer pfeift der Antrieb hübsch dezent sein leises Liedchen.
Noch vielfältiger ist die Wahl der Rekuperationsstufe, ausgesucht per Lenkradpaddel. Gleich vier Varianten gibt es, der eSprinter nimmt „D“, das ähnelt der Verzögerung eines Verbrenners mit Motorbremse. Raffinierter ist „D-Auto“: Jetzt kalkuliert der eSprinter die Erkenntnisse von Radar- und Kamerasystem sowie Navigation ein. Er hat somit den Verkehr im Blick und weiß vom nächsten Kreisverkehr, an den er sich dann arg phlegmatisch heranpirscht. Auch reagiert die Technik mitunter ein klein wenig ruppig beim Auflaufen auf den Vordermann. Tipp: D oder D-Auto wählen und mit wachem Geist und regem Fahrpedal mitspielen. Daraus resultiert eine zügige und gleichermaßen sparsame Fahrt. Sie endet serienmäßig bei 90, im Testwagen bei praxisgerechten 120 km/h. Und mit einem überraschenden Ergebnis: Voll ausgeladen setzte der Mercedes eSprinter als 3,5-Tonner auf der anspruchsvollen Testroute im Schnitt lediglich 25 kWh Strom um. Deutlich weniger als bei den bisher getesteten Wettbewerbern.
Der eSprinter fährt mit 19 kWh durch die Stadt, begnügt sich auf der Überlandstrecke mit 24 kWh und konsumiert auf der Autobahn bei wechselndem Verkehr knapp 30 kWh, in full Flight 34 kWh. Das alles spricht für einen ausgezeichneten Stoffwechsel. In der Variante mit 81-kWh-Batterie schafft der Mercedes eSprinter am Stück mehr als 300 Kilometer, flotte Autobahnfahrt eingeschlossen. Im Anschluss lädt er fix. Selbst im Bereich von deutlich über 90 bis 100 Prozent Batteriekapazität beträgt die Ladeleistung des eSprinter bei hochsommerlichen Temperaturen sanft abnehmend zwischen etwa 55 und später 25 kW. „Hey Mercedes!“ „Ja bitte?“ „Wie geht es Dir?“ „Danke, bei mir läuft’s.“ Stimmt.
Es gilt auch für das Fahrwerk mit starrer Hinterachse, hier veredelt zur De-Dion-Achse. Mit Motor und Eingang-Getriebe in einem Heckmodul aus Aluminium mit Vierpunkt-Lagerung. Leer fährt sich der Transporter vergleichsweise komfortabel. Beladen wirkt der eSprinter fast flauschig, wiegt sich sanft in den Federn, legt sich in die Kurven. Nein, ein Racer ist er beileibe nicht. Aber er bügelt selbst kurze Fahrbahnwellen makellos platt, bei denen manch andere Transporter-Vorderachse heftig stuckert. Da ist es wieder, das bekannte Mercedes-Gefühl vom Fahren in einer eigenen Welt. Wobei es die Entwickler bei der Lenkung zugunsten der Leichtgängigkeit schon etwas übertrieben haben. Im unteren bis mittleren Geschwindigkeitsbereich wirkt sie arg luftig und etwas synthetisch.
Für alle Fälle stecken jede Menge Assistenzsysteme im eSprinter, teils einstellbar via Monitor. Einiges Fingerspitzengefühl ist dann für die Tasten und Wischflächen des Multifunktionslenkrads erforderlich. „Hey Mercedes!“ „Ja bitte?“ „Gefalle ich dir als Fahrer?“ „Wenn du so schön bist wie Deine Stimme klingt, dann bestimmt.“
Stand da vorhin der Begriff „leer“ im Text? Der Mercedes eSprinter in Standardgröße mit 81-kWh-Batterie, Hochdach, Holzboden im Laderaum und hohen Seitenverkleidungen bringt 2,76 Tonnen auf die Waage. Für Steuermann und Fracht bleiben 740 Kilo – Schicksal von E-Transportern mit großer Batterie. Wer auf Reichweite verzichten kann und die 56-kWh-Variante wählt, gewinnt knapp 200 Kilo Nutzlast, kommt je nach Einsatz rund 200 Kilometer weit und spart obendrein netto rund 8000 Euro.
Der Blick auf den Konfigurator führt ohnehin zu Überraschungen. Der Testwagen, ein Prachtexemplar in „Select“-Ausstattung, setzte bei netto 51 855 Euro an – für einen Mercedes verblüffend günstig und nur knapp 3000 Euro oberhalb des vergleichbaren stärksten Verbrenners. Und deutlich niedriger als beim Vorgängermodell. Wer auf Select, die kräftige Maschine und die dicke Batterie verzichtet kann, steigt beim Mercedes eSprinter bereits bei knapp über 40 000 Euro ein. In Relation zu anderen E-Transportern dieser Größenordnung ein Sonderangebot. Es liegt nur rund zehn Prozent über dem vergleichbaren Verbrenner-Sprinter mit Automatik. Dass der Preis eines Mercedes mit vielfältigen Sonderausstattungen problemlos um mehr als ein Viertel klettern kann, ist kein Geheimnis.
Und sonst so? Alles Sprinter im eSprinter. Von Hause aus profitiert der Mercedes vom Hinterradantrieb, er bedeutet gute Traktion und große Wendigkeit. Bei knapp sechs Meter Länge nur 13,4 Meter Wendekreis, Kompliment. Und immer lohnt der Blick auf die Details. Der hintere Stoßfänger ist als Tritt ausgebildet. Es gibt Haltegriffe an Heck- und Schiebetür. Sie rastet beim Öffnen felsenfest ein, also klappt das Parken bergab gefahrlos. Oben im Laderaum strahlt eine festliche LED-Beleuchtung, sind die Kabel fein säuberlich in Kanälen verlegt. Unten lauern zwei Handvoll sehr stabiler Zurrösen auf Fracht. Hinten nehmen Netzablagen in den Hecktüren Kleinkram auf.
Im Fahrerhaus geht es mit hochwertigen Materialien in guter Verarbeitung, komfortablen Sitzen und durchdachten Lösungen weiter. Da wären Kleiderhaken, endlich mal sinnvoll mittig an der gepolsterten Trennwand angeordnet. Es gibt für kalte Tage eine Sitz- und eine Lenkradheizung, eine elektrische Warmluft-Zusatzheizung sowie eine stromsparende Wärmepumpe. Während anderswo das bordeigene Ladekabel mit Füßen getreten wird, steckt es hier, geschützt durch eine Hülle, in einer stabilen Halterung rechts am Fahrersitz. Das ist Mercedes, das ist eSprinter. Und das hier ist MBUX. Bei 30 Grad Celsius entwickelt sich ein weiteres Zwiegespräch. „Hey Mercedes.“ „Was kann ich für Dich tun?“ „Mir ist zu warm.“ „Zwischen uns scheint die Chemie zu stimmen. Mir ist auch schon ganz warm geworden.“ Oha, da ist wohl eine Abkühlung durch den nächsten Regenschauer fällig.
So wird der Mercedes eSprinter zum Logistik-Transporter für die letzte Meile:
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