Experten-Test VW Amarok: Das blaue Wunder?
Freunde, holt den großen Koffer vom Dachboden, packt das großkarierte Hemd raus, den Stetson und die spitz zulaufenden Stiefel aus fast echtem Schlangenleder. Ist Karneval, Fasching, Fasnet? Von wegen: Jetzt ist Pickup-Zeit. Der VW Amarok ist wieder da, komplett erneuert in enger Zusammenarbeit mit Ford und dessen Ranger. Die Ford-Leute können Pickup, das beweisen sie seit langem nicht nur mit dem mächtigen US-Bestseller F-150, sondern auch beim Ranger. Er und sein neuer Zwillingsbruder VW Amarok ähneln aus amerikanischer Sicht eher einem Hänfling. In Europa zählen sie bereits zu den automobilen Elefanten im engen Porzellanladen des Straßenverkehrs.
Die erste Generation des VW Amarok trat eine Welle neuer Pickups namhafter Fabrikate in Europa los. Sie sind wieder verschwunden, zusammen mit Traditionalisten der Branche. VW aber lässt nicht locker. Bei der Entwicklung des neuen Amarok war die australische Ford-Dependance federführend, das klingt nach einer robusten Basis. Hinzu kommt die Fertigung in Südafrika statt der Transporter-Hauptstadt Hannover. VW hat bei all dem kräftig mitgemischt, heißt es. Und den Amarok im Stil des Hauses angezogen. Identisch ist neben der Technik und den Grundzügen der Einrichtung nur das Oberteil der Karosserie mit Fenstern, Säulen und Dach, Fachleute sprechen von Greenhouse. Hier fährt der VW in einem schmutzempfindlichen Blauton vor, je nach Lichteinfall wirkt er darin eingekleidet wie in einem dieser 99-Euro-Sonderangebots-Anzüge oder einem strapazierfähigen Blaumann. Wählen wir die zweite, die standesgemäße Interpretation.
Eine Begehung des VW Amarok will geübt sein. Kein Hineinplumpsen wie in einen Lieferwagen. Kein Einsteigen wie in einen Transporter. Sondern ein seitliches Hineinschieben. Vorne genießen Fahrer und Beifahrer genug Raum, gute Sitze und die recht hochwertigen Materialien der Top-Variante Amarok Aventura. Die Instrumente sind gut ablesbar, die Bedienung erfordert eine gewisse Konzentration für Feineinstellungen, VW eben. Im Mannschaftsabteil geht es nüchterner zu und die Beinfreiheit ist begrenzt, zweite Reihe eben. Die umgeklappte Lehne nimmt ergänzend zur Pritsche – VW sagt Cargobox – weitere Fracht auf.
Hinten parkt zum Test eine Palette voller 25-Kilo-Säcke Schnellbeton – „schütten, gießen, fertig“. Längs, denn die versprochene Breite zwischen den Radkästen für die Palette quer funktioniert nicht. Schützt doch eine rutschige Kunststoffauskleidung – typisch Ford – den Laderaum. Die Bordkante liegt hoch, Festzurren an den gewohnten Ösen gelingt von außen nur Riesen. Die zusätzlichen Beschläge an der Oberkante wirken zwar handfest, doch warum nicht die gewohnten Airline-Schienen? Der Aufstieg über Ladeklappe oder Hinterrad ist nicht ganz ohne. Kollege Ranger bietet mit einer seitlichen Trittstufe mehr Möglichkeiten.
Auf der Straße bewegt sich der VW Amarok hochherrschaftlich. Für die Älteren: ein wahres Lale-Andersen-Auto – ein Schiff wird kommen. Schneidige Kurvenfahrt übernehmen andere. Mit seinen grob profilierten All-Terrain-Reifen sucht sich der VW seinen Weg. Gehorcht andererseits der Lenkung aufs Wort. Die vielfältigen Assistenzsysteme arbeiten zuverlässig. Und weil sich der aktive Spurassistent in seiner Wirkkraft einstellen lässt – auch so ein Ford-Merkmal – rupft er bei Annäherungen an Begrenzungslinien nicht übertrieben am Steuer. Der Fahrkomfort überrascht, trotz Blattfeder-Hinterachse: Auf kurzwelligen Fahrbahnen tanzt der Amarok ein wenig Rock’n Roll, Schlaglöcher meldet er weiter. Generell aber gibt es sich verblüffend gediegen. Dies sowohl leer als auch mit ordentlich Fracht auf dem Buckel.
Pick-up heißt nicht bei jedem Fabrikat automatisch Offroad-Fähigkeit, beim VW Amarok in Europa schon. In der Spitzenausführung verbrämt mit einem „erweiterten zuschaltbaren Allradantrieb“, so die niedersächsisch-nüchterne Bezeichnung. Auf der Straße fährt der Amarok mit angetriebener Hinterachse. Das entsprechende Kürzel auf dem Drehregler lautet 2H. Die nächste Stufe heißt 4A, dann verteilt der VW sein Drehmoment variabel zwischen den Achsen. 4H bedeutet starre Kraftverteilung im Verhältnis 50:50. Höhepunkt für harte Einsätze ist 4L, dann kommt eine Untersetzung mit dem deftigen Wert 3:1 zum Einsatz. Das bedeutet eine Verdreifachung der ohnehin höchst beachtlichen Zugkraft. Gleichzeitig fällt die Höchstgeschwindigkeit auf ein Drittel, hier gut 50 km/h.
Zusammen mit diversen Fahrprogrammen und der zuschaltbaren elektronischen Differenzialsperre an der Hinterachse verwandelt sich der VW Amarok auf diese Weise Schritt für Schritt in einen Fast-Allesüberwinder. Das vielstufige Getriebe verliert dann indes seine gewohnte Sanftheit, mit ruckartigen Schaltvorgängen keilt es aus und gibt dem Fahrer manchen Tritt ins Kreuz. Noch ein wenig Faktenhuberei: Die Bodenfreiheit beläuft sich auf 230 mm, der Rampenwinkel auf 21 Grad, die Böschungswinkel vorn hinten auf 30 und 26 Grad. Und falls der Weg unverhofft an einem Gewässer endet: die Wattiefe bemisst sich auf 800 Millimeter.
Die obligatorische Verbrauchsfahrt absolviert der Amarok souverän. Angesichts der Top-Motorisierung mit V6-Diesel, 177 kW (240 PS) und einem mächtigen Drehmoment von 600 Nm kein Wunder. Der dicke Diesel ist mit einer Zehngang-Automatik verbunden. So etwas gibt’s ausschließlich bei Ford. Der VW bestätigt, dass Dicke flink sein können. Mit überraschender Wendigkeit. Und einem Antrieb, der sich beim kräftigen Tritt aufs Gas angesichts von zehn Gängen zwar erst eine Gedenksekunde gönnt, doch im Anschluss den Amarok nach vorne peitscht. Trotz dessen stattlichen Gewichts von bereits leer gut 2,4 Tonnen.
Das generell wenig geforderte Kraftpaket unter der kiloschweren Motorhaube arbeitet leise und laufruhig. Es verspürt indes auch großen Durst. Ein Verbrauch im einstelligen Bereich ist selbst bei großer Zurückhaltung kaum möglich. Auf der Teststrecke konsumierte der beladene VW Amarok knapp über zehn Liter/100 km bei gelassener Stadt- und Überlandtour. Im gestreckten Galopp – der wuchtige Pickup rennt bis zu 190 Sachen – schluckt er um die 15 Liter. Macht im Schnitt 11,4 Liter/100 km. Um die zwölf Liter/100 km sollten Amarok-Eigner auf jeden Fall einkalkulieren. Abseits der Straße oder im Anhängerbetrieb – der VW darf 3,5 Tonnen ziehen – wird’s dann individuell teurer. Aber V6-Käufer wissen das und für Sparer gibt es den schlankeren Zweiliter-TDI. So weich das Getriebe im Normalbetrieb schaltet, gleichzeitig agiert es selbst bei gelassenem Gasfuß übereifrig, vergisst die enorme Durchzugskraft der Maschine. Diese Hektik hat der Amarok gar nicht nötig. Stellt sich doch an Bord des neuen VW Amarok – oder ist’s ein Amarange, gar ein Rangerok? – ganz von selbst eine gelassene Fahrweise ein. Ob auf der Straße, oder abseits davon. Und die Sache mit Hut, Hemd und Stiefeln? Kein Problem, es geht auch ohne Verkleidung.
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Technische Daten: VW Amarok Aventura
Abmessungen (L/B/H): 5350/1917/1884 mm
Radstand: 3270 mm
Wendekreis: 12 900 m
Laderaum (L/B/H): 1651/1584/529 mm
Breite zw. Radkästen: 1209 (Serie) mm
Ladekapazität: 1,2 m³
Leergewicht Testwagen: 2440 kg
Nutzlast: 750 kg
Zul. Gesamtgewicht 3190 kg
Anhängelast bei 12 % Steigung 3500 kg
Zul. Zuggesamtgewicht 6400 kg
Motor: Turbodiesel
Hubraum: 2993 cm³
Leistung: 177 kW/240 PS
Drehmoment: 600 Nm
Getriebe: Zehngang-Wandlerautomatik
Antrieb: auf die Hinterachse, zuschaltbarer Allradantrieb, Gelände-Untersetzung
Beschleunigung: 0 – 50/100 km/h 3,6/9,3 s
Elastizität:
60 – 80/100 km/h (Kickdown) 3,1/5,7 s
80 – 120 km/h (Kickdown) 7,1 s
Höchstgeschwindigkeit 190 km/h
Innengeräusche:
Stand/50/80/100 km/h 45/53/58/62 db(A)
Höchstgeschwindigkeit 71 dB(A)
Verbrauch WLTP: 10,1 L/100 km
CO2-Emissionen: 266 g/km
Teststrecke beladen: 11,4 L/100 km
Testverbrauch beladen: min./max. 10,4/15,5 L/100 km
Testverbrauch Adblue: 0,32 L/100 km
Preis (exkl. MwSt.): Amarok Aventura ab 58 961 Euro
Grundpreis Baureihe 39 626 Euro
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