Experten-Probefahrt: Mercedes Citan

von | 6. November 2023

Eigenständiger Auftritt innen wie außen, die Bedienung mal konservativ und mal wegweisend, einige praktische Details – der Lieferwagen mit Stern hat neuen Anlauf genommen.
Randolf Unruh

Der Auftritt des Mercedes Citan ist beim erneuten Start markentypisch dynamisch geraten.

Zunächst Häuserschluchten, Großbaustellen und Hafenanlagen, später fast dörfliches Geläuf und links wie rechts Gewächshäuser. Oben dunkle Wolken, unten ein blankpolierter Stern. Das ist der Rahmen für den Proberitt mit dem Mercedes Citan, der so gern der neue Star unter den Lieferwagen sein will. Rund um den Testwagen wuseln in der City ganze Rudel von Lieferwagen aller Fabrikate, das gesamte Lieferwagen-Alphabet rauf und runter. Nur kein Mercedes Citan. Etwas versteckt parkt am Rande der Strecke ein Mercedes Vaneo. Vaneo? Er sollte vor 20 Jahren zunächst als Lieferwagen an den Start gehen und verendete dann schnell als Van für die Familie. Zehn Jahre später leitete Mercedes vom erfolgreichen Renault Kangoo den deutlich weniger erfolgreichen Citan ab. Aber jetzt: Im dritten Anlauf soll der neue Mercedes Citan endlich den Durchbruch bringen.

Randolf Unruh

Das typische Mercedes-Lenkrad und klassische Armaturen heißen den Fahrer willkommen.

Typisch Mercedes: Citan-Cockpit inklusive MBUX

Einladend weit schwingt die Fahrertür auf, mehr Einfallstor als Tür. Dahinter ist das typische Mercedes-Lenkrad in Sicht, je nach Ausstattung mit umfangreicher Tastenklaviatur fürs Drücken, Scrollen und Wischen, ziemlich gewöhnungsbedürftig. Anders die weitere Bedienung: klassische und bestens ablesbare analoge Instrumente. Klar einrastende und während der Fahrt blind bedienbare Drehregler für Heizung und Lüftung. Ein herkömmlicher Handbremshebel zwischen den Sitzen. Und ein richtiger Zündschlüssel mit Bart, und das als Mercedes. Hat der nagelneue Mercedes Citan also sinnbildlich ebenfalls einen Bart? Falsch, konservativ heißt, Gutes zu bewahren. Und es gibt den Citan auch mit E-Handbremse und schlüssellosem Zugang und Start. Ebenfalls setzt das hochmoderne optionale Infotainmentsystem MBUX – „Hey Mercedes“ – unverändert Maßstäbe. Auch wenn der Bildschirm hier nur überschaubares Format erreicht, Kleines Auto, kleiner Bildschirm, kleinerer Preis.

Der Baby-Benz beweist Sinn fürs Praktische. Etwa mit der flachen offenen Ablage auf dem Cockpit für Klemmbrett oder Pausenzeitung. Mit der kleinen Ablage zwischen den Sitzen und ihren Steckdosen und induktivem Laden des Mobiltelefons. Oder der geschlossenen Ablage über den Instrumenten mit Steckdose und Kabeldurchführung. Manches gibt es nur optional, also ran an den scheußlich unübersichtlichen Konfigurator, denn Preislisten gibt’s beim Stern längst nicht mehr.

Düsen im Jet-Stil und ein Ingenieurshebel

Typisch Mercedes, ebenso die Luftdüsen im Jet-Stil, der der gerne Ingenieurshebel bezeichnete Vielzweck-Lenkstockhebel für Blinker, Fernlicht und sämtliche Wischerfunktionen. Wer sich die edlere Variante Citan Pro gönnt, erhält neben einem üppigen Ausstattungspaket dezenten Schmuck aus Chrom und – nein, nicht der vielzitierte Klavierlack, aber schwarz glänzendem Kunststoff. Dann noch die kuscheligen Sitzbezüge „Norwich“ wählen und die bequemen, gut ausgeformten Sitze verwandeln sich in Sessel. Für häufiges Rein und Raus sind sie sogar fast zu intensiv ausgeformt.

Langbeiner wünschten sich eine üppigere Längsverstellung, ihr Sitz klebt an der Kunststoff-Trennwand zum Frachtraum. Doch mehr Beinfreiheit für den Fahrer hieße Verzicht auf den zweiten Palettenstellplatz im Heck oder aufs kompakte Außenmaß von 4,5 Meter Länge. Drumherum im Cockpit ist die Materialqualität des Citan angemessen, die Farbwelt eher düster.

Randolf Unruh

Die Sitze sind stark ausgeformt und bequem, je nach Bezug sogar kuschelig.

Sanfte Federung, zielgenaue Lenkung

Die große Stunde des Citan schlägt beim Fahren. Der teilbeladene Kastenwagen federt verblüffend sanft, die elektrisch unterstützte Lenkung arbeitet zusammen mit dem 16-Zoll-Fahrwerk (nicht durchweg Serie) zielgenau, präzise und auch bei Rangiertempo nicht zu leichtgängig. Gerne verweist Mercedes auf seine umfangreiche Fahrversuche – der französische Kooperationspartner wird sich nicht gegen Verbesserungswünsche gesträubt haben.

Große Außenspiegel mit eingearbeiteten Weitwinkelfeldern vermitteln einen sehr anständigen Blick nach hinten, die Rückfahrkamera ein gestochen scharfes Bild. Trotzdem empfiehlt sich aus dem reichhaltigen Programm der elektronischen Helfer zumindest der beim Spurwechsel sicht- und hörbare warnende Totwinkelassistent. Der Spurassistent zupft vergleichsweise sanft am Lenkrad. Der aktive Bremsassistent erkennt auch Querverkehr. Ein Pendant für rückwärtiges Ausparken wie im Sprinter gibt es nicht, das bleibt beim Rangieren im verblechten Citan Gefühls- und Glückssache.

Gepflegte Dieselmotoren, niedrige Innengeräusche

Am Start ist Mercedes nach einigem Anlauf mit einem ganzen Rudel Antriebsvarianten. Ob 1,5-Liter-Diesel Citan 108 CDI (55 kW/75 PS), 110 CDI (70 kW/95 PS) und 112 CDI (85 kW/116 PS), die 1,3-Liter-Benziner Citan 110 (75 kW/102 PS) und Citan 113 (96 kW/131 PS), alle geprüften Exemplare stecken niedrige Drehzahlen lässig weg, benehmen sich sehr gepflegt. Dazu gehört beim kräftigen Tritt aufs Gas zunächst eine kurze Denkpause, um dann rege anzutreten, abgesehen vom eher verhaltenen Citan 110. Der stärkste Diesel profitiert bei Vollgas von einem kräftigen Overboost.

Der Schalthebel liegt gut zur Hand, auch rollt der Citan im Stadt- und Überlandverkehr in allen Varianten sehr leise, bedingt durch dickere Glasscheiben im Vergleich zum Vorgänger, oder auch Doppeldichtungen an den Türen. Die ersten Diesel zeigen einen kräftigen Brummer um 2500 Touren, den will Mercedes noch wegbügeln. Bei höheren Geschwindigkeiten geht’s dann nicht mehr ganz so leise zu. Der Begriff Citan ist eben von City abgeleitet, dort ist sein Habitat, auch kosten Geräuschmaßnahmen Geld und Gewicht.

Randolf Unruh

Das passt auch quer: Danke 125 Zentimetern zwischen den Radkästen schluckt der kurze Citan zwei beladene Paletten quer.

Zwei Gewichtsklassen, zwei Palettenstellplätze

Das steckt bei Lieferwagen im Heck, es nimmt bei Mercedes Citan bereits in der Kurzausgabe zwei beladene Paletten auf. Passend zum individuellen Job schonen unterschiedliche Böden und Verkleidungen das Blech. Mit zwei Gewichtsklassen von rund 2,0 und 2,2 Tonnen zulässiger Gesamtmasse und entsprechend rund einer halben oder einer Dreivierteltonne Nutzlast stellt sich der Citan auf Ladung ein. Die Erweiterung der Hecktüren von 90 auf 180 Grad ist indes fummelig. Und Vorsicht: Zwar lassen sich Paletten quer ins Heck zirkeln, doch das Heckportal verjüngt sich nach oben, also Obacht bei hoher Beladung. Die Fuhre im Zaum halten sollen Scheiben vorn und Trommelbremsen an der Hinterachse. Vier Scheiben gibt es beim Tourer und den Varianten mit elektrischer Parkbremse, erläutert ein Produktmanager.

Bald folgt Nachschub, dann komplettieren der lange Radstand, ein Doppelkupplungsgetriebe und der vollelektrisch angetriebene eCitan das Angebot. So mancher vom harten Schicksal gezeichnete Liefer-wagen ruft nach Ersatz. Die Sterne stehen nicht schlecht, dass man in der City künftig häufiger einem Citan begegnen wird.

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